Home » Politik & Wirtschaft » Editorial » Edito: Amerika der Seele

Edito: Amerika der Seele

Von einem „Amerika der Seele“ schreibt der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgård in seiner gleichnamigen, im Oktober 2016 erschienenen Essaysammlung. In dem titelgebenden Text geht es, in Anlehnung an Knausgårds Landsmann Knut Hamsun, um den Konflikt zwischen Individuum und moderner Massengesellschaft.

Von einem „Amerika der Seele“ kann auch die Rede sein, wenn man an die Millionen Menschen denkt, die in den vergangenen Jahrhunderten in die Vereinigten Staaten von Amerika auswanderten, darunter auch viele Luxemburger. Denn für sie war Amerika ein Land der Hoffnung, der unbegrenzten Möglichkeiten, wo sie ein neues Leben beginnen und ihre Träume verwirklichen wollten. Einige hatten Erfolg, anderen wiederum blieb dies nicht vergönnt. Gemeinsam haben viele von ihnen das hohe Maß an Eigeninitiative, wie der in unserer Titelgeschichte beschriebene René Arend. Sie sind Existenzgründer.
Heute haben die USA viel von ihrem Glanz als Zufluchtsort und Land der Sehnsucht verloren. Das amerikanische Zeitalter scheint vorüber zu sein. Spätestens seit der Präsidentschaft von George W. Bush ist ein „imperial overstretch“ zu beobachten, eine imperiale Überdehnung, wovor der britische Historiker und Politikwissenschaftler Paul Kennedy in seinem Buch „Aufstieg und Fall der großen Mächte“ vor rund dreißig Jahren gewarnt hatte.

Die Großmacht USA wurde nicht nur durch die Attentate vom 11. September 2001 empfindlich getroffen und verwundet, sondern in den Jahren danach in ihren Ressourcen überfordert. Sie hat dadurch nicht zuletzt an Einfluss und an Selbstvertrauen eingebüßt. Mit der hoffnungsvollen Wahl Barack Obamas schien sich das Blatt der Geschichte noch einmal zum Positiven zu wenden, mit dem Aufstieg und der Machtübernahme Donald Trumps geriet die jüngere US-Geschichte jedoch zur Farce.

Die USA haben ihren Glanz als Sehnsuchtsort verloren. Diese Rolle hat Europa übernommen.

Längst hat Europa die verheißungsvolle Rolle als Ziel von Millionen von Migranten übernommen. Nachdem im 19. und 20. Jahrhundert mehr Menschen von dort aus- als einwanderten, hat das „alte Europa“, wie es der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld noch vor fünfzehn Jahren nannte, Amerika als Einwanderungskontinent abgelöst – nicht zu vergessen sind auch traditionelle Einwanderungsländer wie Kanada, das eine sehr fortschrittliche Immigrationspolitik betreibt: „Wir glauben, dass Einwanderer für die Zukunft unseres Landes eine entscheidende Rolle spielen“, wird Ahmed Hussen zitiert, der kanadische Minister für Immigration, Flüchtlinge und Staatsbürgerschaft, der selbst als sechzehnjähriger Flüchtling nach Kanada kam.

In Europa gilt die positive Haltung gegenüber Immigranten nicht für alle Länder im gleichen Maße. Staaten wie Luxemburg und Schweden einerseits und Polen und Ungarn andererseits unterscheiden sich darin deutlich voneinander. Einige Staaten lehnen es nach wie vor ab, sich als Einwanderungsländer zu bezeichnen. Von einer gemeinsamen Haltung in der Migrationspolitik ist man jedenfalls weit entfernt.

Nicht zuletzt aber auch von dem, was einst Alexis de Tocqueville an der amerikanischen Demokratie pries. Der französische Publizist hatte in den 1830er Jahren die USA bereist und später den Bürgersinn der Amerikaner hervorgehoben: Dazu gehörten unter anderem Eigeninitiative und die Bereitschaft, sich in öffentliche Angelegenheiten einzumischen. Andererseits betrachtete er die Beraubung des selbstständigen Handelns und der Verlust der „moeurs“, der sogenannten Sitten, als Gefahr für die Demokratie.

Tocqueville warnte sogar von einem Abrutschen in die Unfreiheit. Genau dies würde aber dem Geist der Einwanderer widersprechen. Es ist jener „Spirit“, den vor allem Existenzgründer haben. Über jenen verfügen vor allem Immigranten in einem besonderen Maße. Das heißt aber nicht, dass Einwanderer per se Existenzgründer sind. Vielen bleibt schlichtweg nichts anderes übrig.

Stefan Kunzmann

Chefredakteur

Ressorts: Politik & Wirtschaft

alommel