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Einmal Junkie, immer Junkie

Mit der Geschichte über den eigenen Vetter und dessen Schicksal als Heroinsüchtiger und Behinderter ist Pol Cruchten ein kleines Meisterwerk gelungen. Noch dazu revolutioniert Never Die Young den Luxemburger Dokumentarfilm.

Lange Zeit hat Pol Cruchten nicht darüber gesprochen. Nicht, weil es ihm peinlich gewesen wäre, sondern weil er keine Distanz zu haben geglaubt hat. Weil Guido sein Vetter und das Privatleben ihm bislang heilig gewesen ist. Doch das, was der mittlerweile verstorbene Cousin ihm erzählte, ist genau die Geschichte, die er verfilmen will. Zuerst sieht er sich in der Rolle des Produzenten, will nicht zu sehr verwickelt sein. „De Guido huet allerdéngs drop bestan, datt ech Regie féieren.“ Nach langen Diskussionen steht schließlich fest: „Never Die Young“ wird ein Dokumentarfilm. Aber kein gewöhnlicher.

„Never Die Young“ zeigt vor allem Bilder, Menschen tauchen selten auf, dennoch könnte man sich keine lebendigere Dokumentation vorstellen.

Eine Off-Stimme erzählt, was passiert ist. Guido wird in Petingen geboren, geht jeden Samstag mit seinem Großvater und den Geschwistern in die Messe, sitzt in der Schule stets in der letzten Reihe. Er ist ein guter Schüler, muss sich nicht besonders anstrengen, verbringt viel freie Zeit im Kino oder auf dem „Tëtelbierg“. Dort findet er eines Tages eine Pfeilspitze, gibt sie dem Lehrer und muss als Elfjähriger feststellen, dass Erwachsene nicht nur lügen, sondern zudem wahre Mistkerle sind. Das Internat in Belgien, in denen er drei Jahre lang nur an Rache denkt, bezeichnet er als Gefängnis. Er vermisst seinen Vater, der ihn lediglich ein einziges Mal besucht.

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Man sieht Flurfluchten, leere Waschräume, ein Treppenhaus. Was sich in diesen Räumlichkeiten zugetragen hat, zeigt Pol Cruchten nicht, und trotzdem weiß man, wie es war. Die Prügel, die Guido bekommt, wenn er nicht gehorcht. Die strengen Regeln, die er hasst, weil sie ungerecht sind. Die Betten, die jeden Morgen perfekt gemacht sein müssen. Die Tränen, die der Junge weint, weil er am Wochenende nicht nach Hause darf. Der Zuschauer muss sich alles vorstellen, und das ist das Geniale an „Never Die Young“. Der Film liefert lediglich Bilder, Menschen tauchen nur selten auf, dennoch könnte man sich keine lebendigere Dokumentation vorstellen.

Zurück in Luxemburg raucht Guido zum ersten Mal Haschisch, lernt Dealer kennen, die regelmäßig nach Maastricht fahren, beginnt selbst zu dealen, und niemand merkt irgendetwas. Als er mit 15 Jahren einem älteren Freund ein Gramm Heroin abkauft, beginnt erstens seine Drogenabhängigkeit und zweitens ein Alltag, der davon bestimmt wird, ständig genug Geld für den nächsten Shot zu haben. Die Tante besitzt einen Schmuckladen. Guido klaut den Schlüssel zum Tresor und im Nachhinein regelmäßig kleine Summen daraus. Verdächtigt wird der Onkel. „Es waren die schönsten Jahre meines Lebens“, heißt es. Und dann folgt eine wirklich lustige Geschichte.

NDY08Auf einer Rückfahrt von den Niederlanden geht dem Dealerquartett auf einer einsamen Landstraße das Benzin aus. Guido und ein Freund, beide völlig zugekifft, machen sich auf den Weg zur nächsten Telefonzelle und werden rein zufällig von einer Polizeistreife aufgegriffen – und zu einer Tankstelle gefahren. Dort fällt Guido ein Paket Haschisch aus der Jackentasche. Der Tankwart sieht es. Nichts geschieht. Über diesen Zwischenfall hätte er Jahre später immer wieder lachen können.

Auch dem Zuschauer ist – trotz der ungeheuerlichen Tragik dieser Chronik eines angekündigten Untergangs – oft zum Lachen zumute. Dem Ton, der Stimme, dem Gesagten sei Dank. Regisseur Pol Cruchten, der ebenfalls das Drehbuch geschrieben hat, hält nichts vom Schwafeln. Knappe Sätze, null Pathos und Atem beraubend schöne Standaufnahmen machen aus „Never Die Young“ ein kleines Meisterwerk und revolutionieren gleichzeitig den Luxemburger Dokumentarfilm.

Andere Filmemacher hätten sich wahrscheinlich auf die Suche nach alten Freunden und Bekannten gemacht, damalige Polizisten und Untersuchungsrichter interviewt, Fotos ausgegraben, den Protagonisten beim Heroinspritzen gezeigt, seinen ausgemergelten Körper. Pol Cruchten filmt schöne Landschaften zu Aussagen wie: „Zuerst nimmt man Heroin einmal im Monat, dann einmal in der Woche, schließlich täglich, bis man daran zugrunde geht.“ Guido vergleicht seine Abhängigkeit mit dem Vietnamkrieg. Die meisten seiner Freunde sterben, eine Mutter verliert ihre drei Söhne am „brown sugar“. Es gibt etliche Familien mit dem gleichen Schicksal.

„Never Die Young“ vertritt Luxemburg in der Vorauswahl für die Oscars.

Kurz vor seinem 17. Geburtstag kommt Guido nach Dreiborn. Ein Paradies, wie er behauptet. Im Garten wachsen sogar Cannabispflanzen. Später meldet er sich zur Armee, will überwacht sein, aber weil er zu viele Leute kennt, die hinter Gittern sitzen, wird er abgelehnt. Den Job, den sein Vater ihm bei der Eisenbahn vermittelt, schmeißt er hin, hat Angst, auf den Gleisen zu arbeiten.

NDY10Dass Frauen ihm nicht wichtig sind, erklärt sich durch die Tatsache, dass ein Herointrip hundert Mal besser ist als ein Orgasmus. Dass die Polizei ihn im Visier hat, bemerkt er zu spät. An dem Tag, an dem er dem Haftrichter vorgeführt wird und anschließend ins Gefängnis im Grund gebracht werden soll, stürzt er sich kopfüber eine 18 Meter tiefe Mauer hinunter. Die Ärzte geben ihm keine Chance, aber Guido überlebt, querschnittsgelähmt. Diesmal ist es die Mutter, die ihn täglich im Krankenhaus besucht, die ihm die Kraft zum Weiterleben gibt. Irgendwann hat er dennoch genug von seinem Leben im Rollstuhl und besorgt sich eine Waffe und Munition. Und plötzlich sieht man ihn, wie er an der Pistole herumfummelt, die in einem Schraubstock an einem Tisch befestigt ist. Guido bereitet seinen Selbstmord bis ins kleinste Detail vor, doch die Kugel ist nicht tödlich. Glück gehabt, oder auch nicht. Pol Cruchtens Vetter stirbt im Dezember 2011. Woran wird nicht verraten.

Der Epilog von „Never Die Young“ ist eine grandiose Liebeserklärung an das Heroin. Guido hätte alles für seine Geliebte getan, hat es keine 24 Stunden ohne sie ausgehalten. Hunger, Kälte, Schmerzen waren vergessen, wenn er high war, sich stark fühlte. Dargestellt wird das Rauschgift übrigens als ein Tanz, den man nur zu zweit tanzen kann. Wie gut, dass sich Pol Cruchten auf dieses Parkett gewagt hat. Seine Bedenken, eine zu persönliche und daher subjektive Familiengeschichte zu verfilmen, sind völlig unberechtigt, denn er hat genau die perfekte Sichtweise gefunden.

Ab 24. September im Kino.

 

Like a Rolling Stone

Nach „Perl oder Pica“ hat Pol Cruchten den Wunsch, einen persönlicheren Film zu drehen. Und so kommt ihm das Projekt „Never Die Young“ gerade recht.

Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, eine Dokumentation über das Leben Ihres Vetters zu drehen?

Ich habe Guido oft in dem Krankenheim besucht, in dem er die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat, und jedes Mal hat er mir neue Anekdoten erzählt. So wurde die Idee eines Films geboren. Ob es eine Dokumentation oder eine Fiktion werden sollte, stand zu diesem Zeitpunkt allerdings nicht fest. Erst nach langen Überlegungen habe ich nach einem sonntäglichen Mittagsschläfchen an meinen Schreibtisch gesetzt und zu schreiben begonnen. Vier Wochen später war die erste Drehbuchversion fertig.

„Never Die Young“ ist Ihr bislang persönlichster Film…

Es stimmt, dass ich mich stets geweigert habe, mein Privatleben in meine Filme einfließen zu lassen. Zudem habe ich Auftragsarbeiten immer bevorzugt. Allerdings wollte ich nach „Perl oder Pica“ ein persönlicheres Projekt in Angriff nehmen. Leider ist mein Cousin gestorben, bevor er ein einziges Bild des Films gesehen hat. Ich glaube, er hat sich vor dem Resultat gefürchtet. Guido war ein Mensch, den man nur schwer zufrieden stellen konnte. Trotzdem war er drei Mal bei den Dreharbeiten dabei, und ich meine, es hat ihn gefreut, dass sein Leben Thema eines Films werden würde.

Die Erzählstruktur des Films ist eher außergewöhnlich, eine Mischung aus Dokumentarfilm, Fiktion, Essay…

Ohne hochnäsig sein zu wollen oder mich mit „Filmgiganten“ zu vergleichen, aber Filme wie „L’Âge d’or“ oder „Un chien andalou“ von Buñuel waren auch nicht einzuordnen, als sie in die Kinos kamen. Was die omnipräsente Off-Stimme betrifft, muss ich zugeben, dass ich mich an den Filmen von Jean Vigo und den Dokumentationen von Joris Ivens inspiriert und mich bewusst von traditionellen Erzählcodes distanziert habe.

Die Tatsache, dass „Never Die Young“ ganz ohne Dialoge auskommt und stattdessen Bilder sprechen lässt, erinnert an die Zeit des Stummfilms, richtig oder falsch?

Richtig, denn während der Vorbereitungsphase habe ich mich mit experimentellen Stummfilmen wie „Berlin – Die Symphonie der Großstadt“ und „Der Mann mit der Kamera“ auseinandergesetzt. In diesen Dokumentationen spielen Städte Hauptrollen, und Gebäude sowie Straßen können sehr starke Gefühle hervorrufen. Die Filme, die heute gedreht werden, sind mir zu gesprächig, die Szenen zu bunt zusammengewürfelt. Bei „Never Die Young“
wollte ich mich indes auf den so genannten Rahmen, die Kraft eines einzelnen Bildes konzentrieren.

„ Wenn man im Süden Luxemburgs aufwächst, kommt man früher oder später mit Drogen in Kontakt.“

Wobei Ihnen ein facettenreiches Porträt Luxemburgs gelungen ist…

Weil wir an allen möglichen Original-Schauplätzen gedreht haben: in Petingen, auf dem hauptstädtischen Bahnhof, im Internat, im Gerichtssaal, in der freien Natur… Für mich war es wichtig, dass das Dekor authentisch ist. „Never Die Young“ ist ein luxemburgischer Film.

Die französische Off-Stimme trägt maßgeblich zur Atmosphäre des Films bei. Wie schwierig war deren Auswahl?

Anfangs haben Dominique Gallieni, die Cutterin, und ich nach der Stimme eines 50-jährigen Mannes gesucht, aber die Tests waren alle nicht überzeugend. Schließlich fiel die Entscheidung, es mit einer jüngeren Stimme zu versuchen. Dominique stellte mir Robinson Stévenin, den Sohn des Schauspielers und Regisseurs Jean-François Stévenin vor. Da ich ein großer Fan dieses Outsiders des französischen Kinos bin, war ich natürlich begeistert davon, mit einem Mitglied seines Clans zusammenzuarbeiten. Und da bereits die erste Probe mit Robinson einwandfrei geklappt hat…

Warum tragen alle Darsteller – außer Guido – Masken?

Ich lese täglich die französische Tageszeitung „Libération“. Darin stieß ich irgendwann auf eine Reportage über den amerikanischen Fotografen Ralph Eugene Meatyard, der wegen seiner Vorliebe für Abgründiges als Exzentriker galt. Er war eigentlich Optiker und fotografierte meistens nur während der Sommerferien oder an den Wochenenden. Dabei ließ er seine Frau und seine Kinder Masken tragen und inszenierte surrealistische Schwarzweißaufnahmen. Die Idee der Maske wollte ich unbedingt in „Never Die Young“ umsetzen. Masken machen Angst und Spaß, bedeuten Anonymität und gleichzeitig Universalität. Das alles passt wunderbar zu dieser Familiengeschichte.

Das einzige Gesicht, das man deutlich sieht, ist das Ihres Cousins. Warum zeigen Sie ihn ausgerechnet in der recht grausamen Szene mit der Pistole?

Guido hat mir nie verraten wollen, wie er sich des Revolvers bedienen konnte. Immerhin war er gelähmt. Aber er hat darauf bestanden, diese Szene selbst zu spielen. Uns standen lediglich 40 Minuten zur Verfügung, aber er hat durchgestanden.

Von den Themen, mit denen Sie sich in „Never Die Young“ auseinandersetzen, tauchen zwei immer wieder in Ihrer Filmografie auf: Drogen und die Kindheit.

Stimmt. Zu Beginn von „Boys on the run“ sieht man ein rennendes Kind. In „Perl oder Pica“ und „Never Die Young“ ebenfalls. Das ist kein Zufall. Für mich ist die Kindheit das schönste Thema der Filmgeschichte. Was Drogen betrifft, gibt es eine einfache Erklärung: Wenn man im Süden Luxemburgs aufwächst, kommt man an ihnen nicht vorbei. Guido raucht bereits als Achtjähriger Haschisch und ist beileibe kein Einzelfall.

Es gibt in „Never Die Young“ zwei Songs von Bob Dylan…

… weil Bob Dylan für mich zu den größten Musikern des 20. Jahrhunderts zählt und die „Seele“ seiner Lieder sich in meinem Film, der eine offene Wunde ist, widerspiegeln. So gibt „Blowin‘ in the Wind“ dem Ende eine epische Dimension, während „Like a Rolling Stone“ fast die gleiche Geschichte erzählt wie „Never Die Young“: die Geschichte eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hat und gegen sich selbst anzurennen beginnt.

Die nationale Auswahlkommission für die Oscars schickt „Never Die Young“ in die Vorauswahl. Eine tolle Anerkennung, oder?

Natürliche freue ich mich riesig, Luxemburg bei dieser Vorauswahl vertreten zu können. Dass ausgerechnet mein Film, der alles andere als ein gewöhnlicher Film ist, ausgewählt wurde, beweist eine „Open Mind“-Haltung gegenüber der Ästhetik und der Thematik von „Never Die Young“

Pol Cruchten

Foto:Christophe Olinger

Foto:Christophe Olinger

1963 in Petingen geboren, hat in Paris an der Ecole Supérieure d’Etudes Cinématographiques Regie studiert und anschließend für verschiedene Zeitungen und Radiosender als Filmkritiker gearbeitet. Seinen ersten Kurzfilm „Somewhere in Europe“ dreht er 1988 mit Howard Vernon. 1992 wird sein erster Langspielfilm „Hochzäitsnuecht“ auf den Filmfestspielen in Cannes in der Reihe „Un Certain Regard“ gezeigt und erhält 1993 den Prix Max Ophuls beim gleichnamigen Festival in Saarbrücken. Weitere erfolgreiche Filme sind „Black Dju“ (1997), „Boys on the run“ (2003) und „Perl oder Pica“ (2006), der hierzulande rund 18.000 Zuschauer in die Kinos lockte. 1996 gründet Pol Cruchten, zusammen mit Tarak Ben Amar, Frank Feitler und Jeanne Geiben, die Produktionsgesellschaft Red Lion. „Never Die Young“ erhielt bereits in diesem Jahr den „Lëtzebuerger Filmpräis“.

Gabrielle Seil

Journalistin

Ressort: Kultur

Georges Noesen