Wann ist ein Krieg gerecht? Über diese Frage diskutieren Philosophen schon seit jeher. Der US-Amerikaner Michael Walzer schrieb dazu vor 45 Jahren ein Standardwerk.
Die westlichen Demokratien haben bisher mit wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland und mit der Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine reagiert. Zugleich wird versucht, den Krieg auf Distanz zu halten. Trotzdem besteht weiterhin die Gefahr, dass der russische Präsident Wladimir Putin einen Schritt weitergeht und etwa die Republik Moldau angreift – oder gar die Nato-Staaten Polen und im Baltikum. Dann würde ein Bündnisfall vorliegen, und das westliche Verteidigungsbündnis befände sich im Krieg mit Russland (obwohl der Artikel 5 des Nordatlantikvertrages keine automatische militärische Beistandspflicht enthält). Aber wie weit kann dieser Krieg reichen? Und wäre dies ein „gerechter“ Krieg?
Um die Legitimierung von Kriegen geht es schon seit der Antike. Der römische Philosoph Cicero war der Erste, der den lateinischen Ausdruck „bellum iustum“ verwendet hat. Er stellte die bis heute grundlegende Frage nach den legitimen Gründen für Kriege. Zuvor hatte es neben religiösen Begründungen etwa die der Ägypter gegeben, die sich als Vertreter der Ordnung gegenüber dem Chaos berechtigt sahen, zu den Waffen zu greifen, oder im alten Persien um die Verteidigung von Wahrheit und Gerechtigkeit gegen die Lüge. Eine klassische Rechtfertigung für die Gewalt war und ist, wenn sie der Selbstverteidigung dient. Seit Beginn der Neuzeit hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass nur der Staat Gewalt – mittels Armee oder Polizei – anwenden darf, weil er das Gewaltmonopol besitzt. Allerdings gilt folgende Einschränkung: Wenn der Staat dieses Monopol missbraucht und sich gegen seine eigene Bürger wendet, haben diese das Recht sich zu wehren. Eine Form des Widerstands wäre der Tyrannenmord. Ein solcher Fall wäre etwa die Ermordung Hitlers gewesen.
Was ist aber, wenn der Tod des einzelnen Tyrannen nicht reicht? Oder wenn sich Staaten mit Gewalt einem Staat entgegenstellen müssen, weil alle anderen Mittel versagt haben? Das Recht auf einen „bellum iustum“, aber auch das „Recht zum Krieg“ („ius ad bellum“), besteht aus drei Kategorien: in erster Linie als Selbstverteidigung, wobei aber auch der Schutz Unbeteiligter und die Verhältnismäßigkeit der Gewaltmittel definiert werden müssten, wie der deutsche Philosoph Ludwig Siep erläutert. Die zweite Kategorie ist das „Recht im Krieg“ („ius in bello“) und die dritte das „Recht nach dem Krieg“ („ius post bellum“), also die Pflicht, die Möglichkeiten für einen dauerhaften Frieden zu prüfen.

Michael Walzer
Eine Neutralität bietet keinen Schutz mehr.
Ein klassisches Beispiel ist der „gerechte Krieg“ gegen Nazideutschland. Damals nahmen sowohl Frankreich als auch Großbritannien und die Sowjetunion ihr Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch. Doch war es gerechtfertigt, dass die USA in den Krieg eintrat? Spätestens seit dem Angriff der japanischen Marineluftstreitkräfte auf Pearl Harbor und auf die dort vor Anker liegende Pazifikflotte der USA am 7. Dezember 1941 lag für die Amerikaner ein Verteidigungsfall vor. US-Präsident Franklin D. Roosevelt und seine Regierung argumentierten für einen amerikanischen Kriegseintritt jedoch auch mit der dritten Kategorie: die Hoffnung auf eine rechtmäßige spätere Friedenordnung. Ludwig Siep sieht übrigens in der Bombardierung deutscher Städte durch die alliierte Luftwaffe eine Verletzung des „ius in bello“: „Es war ganz gezielt gegen Zivilisten.“ Dies gilt auch für den Abwurf der Atombomben in Japan.
Wer entscheidet aber darüber, ob ein Krieg gerecht oder ungerecht ist? Dies könne nur eine überstaatliche Autorität, befand bereits Cicero. Im Völkerrecht wurde diese übergeordnete Autorität festgelegt: Der 1920 ins Leben gerufene Völkerbund konnte jedoch den Zweiten Weltkrieg nicht verhindern*, und die 1945 gegründeten Vereinten Nationen mit dem Weltsicherheitsrat haben bis heute das Problem, dass Staaten, insbesondere wenn sie zu den ständigen Mitgliedern des Weltsicherheitsrats gehören, dessen Entscheidungen blockieren können, wenn ihre eigenen Interessen betroffen sind. So blockierte Russland, ein Verbündeter Serbiens, 1999 einen Militäreinsatz im Konflikt um den Kosovo: Damit verstieß der Nato-Angriff auf Serbien zwar gegen das Völkerrecht, aber gerechtfertigt schien er den westlichen Regierungen trotzdem, weil sie ein Massaker der Serben an den Kosovo-Albanern befürchteten.
Das Standardwerk der jüngeren Zeit zur Theorie des gerechten Krieges hat der amerikanische Philosoph geschrieben: „Just and Unjust Wars. A Moral Argument with Historical Illustrations“ (New York 1977, die deutsche Ausgabe erschien 1982 unter dem Titel „Gibt es den gerechten Krieg?“). Walzer stellt sich die Frage vor dem Hintergrund des Vietnamkrieges. In seinem Buch stellt er die Frage nach der Rolle moralischer Gründe und juristischer Argumentation im politischen Handeln. Die moralische Auseinandersetzung erfordert die Überprüfung, ob die Rechtfertigung eines Akteurs in einem Krieg auch wirklich angemessen ist oder ob sie nicht vielmehr dazu dient, ein falsches Bild zu erzeugen, um Handlungen zu entschuldigen, die tatsächlich nicht entschuldbar sind.
Auch Walzer unterscheidet zwischen dem „ius ad bellum“, dem Recht zum Krieg, und dem „ius in bello“, den legitimen Regeln des Kampfes. Im Gegensatz zur europäischen Politik ist die amerikanische Tradition des gerechten Krieges paradigmatisch: Sie gehört zum außenpolitischen Selbstverständnis der USA, die sich als Verteidiger der freien Welt sehen. Walzer wirft die Frage auf, wann die Grenze überschritten ist, die eine militärische Intervention rechtfertigen könnte. Eindeutig ist sie im Fall von Massakern legitimiert: Dann soll die verantwortliche Seite nicht nur zur Beendigung des Blutbades gebracht werden, sondern es gilt, sie militärisch zu schlagen. „Ihre militärische Niederlage ist eine moralische Notwendigkeit“, schreibt Walzer. Ihm zufolge können einzig und allein aus humanitären Gründen unternommene militärische Interventionen als gerechtfertigt gelten. Von dem Mythos der USA als Schutzmacht von Freiheit und Demokratie gilt es hingegen Abschied zu nehmen. Generell gilt dem Philosophen zufolge, dass „diejenigen, die einen gerechten Krieg führen, keine ungerechten Mittel anwenden, um der gerechten Sache zum Sieg zu verhelfen. Die Diskussion über die Notwendigkeit militärischer Interventionen und über den gerechten Krieg fand eine Renaissance, als im Sommer 1990 irakische Truppen in das benachbarte Emirat Kuwait einmarschierten, und wurde erneut aktuell, als es um die Begründung des Irakkrieges 2003 ging.
Zum russischen Angriff auf die Ukraine im Februar dieses Jahres schrieb Walzer im März im Wall Street Journal: „Wladimir Putin glaubte anscheinend, dass die Ukrainer sich entscheiden würden, nicht gegen die russische Invasion zu kämpfen – weil, so behauptete er, ihre Einwohner in Wirklichkeit Russen seien oder weil die Ukraine von Nazis regiert werde und ihre Bürger eine Befreiung begrüßen würden. Aber die Ukrainer haben ihm das Gegenteil bewiesen.“
Ob er das nun wirklich geglaubt hat oder es nur vorgab, sei nun dahingestellt. Die Reaktionen der Europäischen Union wie auch der Nato, lassen erkennen, dass niemand willens ist, sich in das verantwortungslose Abenteuer eines auch noch so vermeintlich gerechten Krieges zu stürzen. Sie zeigen aber auch, dass eine „Finnlandisierung“, also eine Neutralität, wie sie lange Zeit Länder wie Schweden und Finnland praktizierten, angesichts einer kriegerischen Aggression wie der aktuellen keinen Schutz bietet. Schließlich ist der russische Überfall auf die Ukraine ein Angriff auf die europäische Friedensordnung. Die anstehende Nato-Norderweiterung stellt eine historische Zäsur dar. Dominic Johnson schrieb kürzlich in der Tageszeitung (taz): „In Putins Europa gibt es keine Neutralität mehr. Man ist ihm hörig oder man ist sein Feind.“