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Narrativ der Besonderheit

Das Bild von Joe Biden, der vor laufender Kamera geimpft wird, ist um die Welt gegangen. Es wirkt wie ein Happy End im Stile Hollywoods zum herbeigesehnten Ende eines Jahres, das untrennbar mit der Corona-Pandemie in Erinnerung bleibt. Kurz vor Weihnachten wurde in der Europäischen Union der erste entsprechende Impfstoff zugelassen, die Impfkampagnen wurden auf den Weg gebracht. Und in den USA wird demnächst Biden ins Präsidentenamt eingeführt. Ende gut, alles gut?

Wenn alles nur so einfach wäre! Nach wie vor sterben viele Menschen an der Seuche, und auch die Ablösung von Donald Trump als Oberhaupt einer Weltmacht, die viel von ihrer einstigen Strahlkraft verloren hat, heißt noch lange nicht, dass sich die globalen Probleme von selbst lösen – auch wenn Biden wieder auf den Zug der weltweiten Klimaschützer und der multilateralen Diplomatie aufspringt. 2020 hat uns allemal gelehrt, dass es vieles zu überdenken und zu ändern gilt.

Lange hat sich insbesondere der westliche Teil der Welt in der scheinbaren Gewissheit des ständigen gesellschaftlichen Fortschritts gewähnt: Der Siegeszug von Demokratie und Marktwirtschaft schien unaufhaltsam, ebenso die gesellschaftliche Liberalisierung und Emanzipation. Das Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen und autoritärer Regime, die Bedrohung durch den islamistischen Terror, die Finanzkrise und ihre Folgen sowie die Renaissance des Nationalismus, der Brexit sowie der Aufstieg und die Wahl politischer Irrlichter wie Trump und Jair Bolsonaro zeigten eher das Gegenteil. Nach einer Phase, in der es aussah, als seien wir „in die Zielgerade der Geschichte eingebogen“, wie der Politologe Francis Fukuyama 1992 schrieb, und in der sich die Demokratie in einem Großteil der Staaten durchzusetzen schien, sieht es aus, als hätten wir am Roulette-Tisch alle Errungenschaften wieder verspielt. 2020 entstand der Eindruck: „Rien ne va plus.“

Die Kehrseite: Wer nicht mithalten kann, kommt unter die Räder.

Haben wir uns alle getäuscht? Uns an ewigen Wachstumszahlen geblendet und verblendet? Haben wir über Gebühr konsumiert? Sind wir als Touristen bis zum Ende der Fahnenstange gereist? „Die liberale Fortschrittserzählung ist nicht falsch“, schreibt der deutsche Soziologe Andreas Reckwitz. „Aber trotzdem kann es sich nicht um die ganze Wahrheit handeln. Wer glaubt, Fortschrittsidee und gesellschaftliche Realität würden einander eins zu eins entsprechen, erliegt einer Illusion.“ Die Krisen unserer Zeit verdeutlichen, dass die gesellschaftliche Realität widersprüchlicher und fragiler ist, als uns das Fortschrittsnarrativ glauben machen will. Diese Ereignisse sind vielmehr Ausdruck und Folgen von Konflikten und Widersprüchen der „spätmodernen Gesellschaft“.

In jüngster Zeit werden vor allem vom rechten Rand des politischen Spektrums Szenarien des Niedergangs bemüht. Andere klammern sich „an den Strohhalm der Nostalgie“, stellt Reckwitz fest. In seinem Buch „Die Gesellschaft der Singularitäten“ analysiert er die oben genannten Ambivalenzen. Im Gegensatz zur vorangegangenen „Gesellschaft der Gleichen“, entstanden in den „Trente glorieuses“ nach dem Zweiten Weltkrieg, sei die gegenwärtige Gesellschaft nicht mehr am Allgemeinen, sondern vor allem an der Verfertigung von Besonderheiten und Einzigartigkeiten orientiert. Wir befinden uns demnach in einer Phase des radikalisierten Individualismus. Jeder will besonders und einzigartig sein. Zugleich wird alles abgewertet, was als standardisiert oder massenhaft gilt. Wer nicht mithalten kann, kommt unter die Räder. Die „Singularisierung“ führt zwangsläufig zu einer Polarisierung. Auf diesem Nährboden ist der radikale Populismus gediehen.

Was aber ist der Ausweg aus dieser Polarisierung? Wie können die Krisen und Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft überwunden werden? Am Anfang muss eine nüchterne Analyse stehen. Die Desillusionierung muss nicht in Pessimismus münden, sondern kann als Chance begriffen werden. Das vergangene Jahr der Pandemie hat uns gelehrt: Künftige globale Herausforderungen können die Menschen nur in Form internationaler Zusammenarbeit meistern. Gemeinsam. Die Solidarität soll Priorität haben, ohne dass Besonderheit und Einzigartigkeit verbannt werden. In diesem Sinne wünschen wir Ihnen, unseren Lesern, ein gutes neues Jahr 2021.

Stefan Kunzmann

Chefredakteur

Ressorts: Politik & Wirtschaft

Philippe Reuter